Lettlandreise September 2003



Eine Reise nach Lettland - der Weg zurück in die Vergangenheit


6. Tag: Donnerstag, 4. September 2003


Dies war nun der Tag, an dem wir nach Paugibelas rausfahren wollten. Das ist die Stelle, wo Großvater seit Ende Dezember 1944 vermisst wird. Der Himmel war wolkenverhangen und es nieselte leicht. Gegen 10.00 Uhr nach dem Frühstück nahmen wir wie gewohnt Ernst mit an Bord. Wir fuhren direkt auf die A9 Richtung Liepaja an Pienava vorbei. Ca. 2 km hinter Pienava bogen wir rechts ab, in einen Feldweg hinein. Diesem Weg, der mit tiefen Wasserlachen übersät war, folgten wir noch ca. 3 km Richtung Norden, bis wir die Stelle erreichten, wo sich einst das Gehöft Paugibelas befand und wo mein Großvater mit hoher Wahrscheinlichkeit am 27. Dezember 1944 gefallen ist. Dieses Gehöft, welches - wie so viele in dieser Gegend - leider heute nicht mehr existiert, befand sich früher einmal ca. 200 m von uns ausgesehen in westliche Richtung zum Waldrand hin. Bis zu der genauen Stelle hinzulaufen, war diesmal schlecht möglich, denn das Grundstück wird heute als Acker genutzt und nach dem Regen der vergangenen Tage wären wir bis zu den Knöcheln im Schlamm versunken. Bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren war dieses Gelände noch eine Wiese. Wir entschlossen uns daher unsere Blumen, die wir uns vorher besorgt hatten und die mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife zusammen gebunden waren, hier am Wegesrand niederzulegen. Ernst hatte auch noch ein Grablicht dabei, welches wir dann anzündeten und vor dem Blumenstrauß aufstellten.



Nun konnten endlich meine Eltern - insbesondere meine Mutter - hier an diesem Ort stehen, um dies gewissermaßen alles selbst mit zu erleben und dadurch vielleicht ein bisschen mehr Seelenfrieden finden zu können. Wir standen alle vier auf diesem Feldweg und blickten schweigend hinüber zum Waldrand, jeder in seine Gedanken vertieft, genau dorthin, wo sich vor fast 59 Jahren eine menschliche Tragödie abspielte. Und ähnlich wie vor zwei Jahren an gleicher Stelle, geschah wieder etwas sehr Seltsames, etwas, das man nicht richtig erklären kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Urplötzlich herrschte Totenstille im wahrsten Sinne des Wortes. Es war weit und breit kein einziges Geräusch wahrzunehmen. Kein Auto, kein Flugzeug, kein menschlicher Laut, kein Vogel, keine Fliege, nicht einmal der Wind strich einem um die Ohren. Man hörte ABSOLUT GAR NICHTS!!! Am späten Vormittag, auf freiem Feld, mitten in der Natur hatte ich so etwas vorher noch nie in meinem Leben erlebt, minutenlang kein Geräusch wahrzunehmen, so, als wäre das Gehör einfach abgeschaltet. Die ganze Welt hielt den Atem an - so hatte es jedenfalls den Anschein. Es war einfach gespenstisch. Ich hatte dann noch ein paar Hände voll Erde in eine Tüte gefüllt, um diese mitzunehmen. Aus dem Steinhaufen in der Nähe, der wahrscheinlich ein Überbleibsel dieser ehemaligen Gehöfte ist, nahmen wir zwei kleine Steine mit. Ernst fischte auch noch zwei total verrostete Granathülsen aus diesem Haufen heraus - vermutlich Panzergranaten.



Wir fuhren den Feldweg weiter in Richtung Westen und anschließend nach Süden, so dass wir genau gegenüber der Tankstelle bei Pienava wieder auf die A9 stießen. Wir fuhren auf der Straße ca. 5 km Richtung Liepaja und bogen bei Tempij nach rechts ab. Nach ca. 3 km zeigte uns auf der rechten Seite ein Hinweisschild, dass es hier nach Vanagi ging. Dieser Weg war sehr schlecht, so dass wir die Gelegenheit zu einem kleinen Spaziergang nutzten. Laut diesem Hinweisschild waren es ja nur 1,2 km bis dorthin. Hier in Vanagi verteidigte Hstuf. Adamsons während der 3. Kurland-Schlacht zwischen dem 28. und 31. Dezember 1944 mit seiner 6. Kompanie vom Regiment 44 (19. lett. SS-Gren.-Div.) den Regimentsabschnitt gegen drei Garde-Schützendivisionen des 100. sowjetischen Armeekorps. In dieser Zeit wechselte Vanagi 17 Mal den Besitzer, um dann zum 1. Januar 1945 fest in lettischer Hand zu bleiben. Wir konnten noch die Spuren dieser Kämpfe sehen. Granathülsen, Spaten, MG-Magazine, Reste von Stahlhelmen usw... In den Ruinen von Vanagi wachsen heute die Bäume.



Wir marschierten den Weg wieder zurück zum Auto und fuhren über Lestene direkt nach Dzukste in die neue Cafeteria, um dort etwas zu essen. Vor zwei Jahren gab es hier in Dzukste noch kein solches Lokal. Nach dem Essen wollten wir zunächst nach Hause. Wir stoppten noch kurz beim Lebensmittelgeschäft, um ein paar Dinge einzukaufen, brachten danach Ernst zu seinem Quartier und meine Eltern und ich fuhren nach Seski. Es war kurz nach 14.00 Uhr und wir legten an diesem Tag mal ein kleine Pause ein, denn um 16.00 Uhr hatten wir schon wieder den nächsten Termin.

Kurz nach 15.00 Uhr fuhren wir wieder nach Dzukste und holten Ernst und Modris ab und es ging weiter, direkt nach Lestene zum Friedhof der lettischen Legionäre. Dort trafen wir auf Herrn Franz Schmitz von der HIAG, der zusammen mit seiner Frau am Montag aus Hamburg angereist war. Mit Herrn Schmitz stehe ich schon eine Weile in Verbindung und dadurch war dieses Treffen seit längerem geplant. Er kam an diesem Tag zusammen mit Herrn Edgars Skreija aus Riga angereist. Herr Skreija ist vom lettischen Brüderfriedhofskomitee und war selbst bei der lettischen Legion als Soldat. Auch ihn kenne ich schon von meinem ersten Besuch in Lettland. Herr Schmitz und Herr Skreija legten dann im Namen der Kriegsgräberstiftung: "Wenn alle Brüder schweigen" einen Kranz am Ehrenmal nieder. Auch Ernst hatte wieder ein paar Blumen dabei. Kurze Zeit später traf, wie zuvor verabredet, Herr Andris Rugens zusammen mit seinem Sohn ein. Sie kamen beide aus Slampe hierher gefahren und gehören der lettischen Landwehr an. Nach einer kurzen Unterhaltung fuhren wir alle zusammen nach Saldus.

Auch hier fand die obligatorische Kranzniederlegung statt. Ich wollte noch für jemanden ein Foto von einem Grab machen, dessen Angehöriger hier bestattet wurde, aber leider waren in diesem Block noch keine Kreuze aufgestellt. Nur ab und zu war ein provisorisches Holzkreuz zu sehen. Somit konnte ich die Lage dieses Grabes leider nicht ausfindig machen. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis die Gräber der dort eingebetteten Soldaten ihre Identität erhalten. So blieb mir nichts anderes übrig, als die ungefähre Lage zu fotografieren.

Soldatenfriedhof Saldus
Soldatenfriedhof in Saldus

Nachdem wir in Saldus fertig waren, verabschiedete sich das Ehepaar Schmitz, sowie Herr Skreija von uns. Sie fuhren wieder zurück nach Riga. Unser Weg führte uns zunächst zurück Richtung Dzukste, um auf halber Strecke nach links abzubiegen und über Jaunpils - Petertale - Vaski - Irlava nach Sati zu fahren. Auf dieser Strecke prasselten immer wieder heftige Regenschauer auf uns nieder. Sati liegt etwa 10 km südwestlich von Tukums. Aus Aufzeichnungen von ehemaligen Angehörigen der schweren Heeres-Panzerjäger-Abteilung 666, die Ende 1944 / Anfang 1945 im Gebiet südwestlich von Dzukste im Einsatz waren, geht hervor, dass deutsche Soldaten hier bestattet wurden, die bei Dzukste in dieser Zeit gefallen sind. Sie sollen bei der Kirche, wie auch auf dem zivilen Friedhof begraben worden sein. Zuerst fuhren wir also zum Friedhof. Wir hielten an, stiegen aus den Autos und sahen, dass auf der Friedhofsmauer eine männliche Person regungslos auf dem Rücken lag. Herr Rugens sah ihn sich aus der Nähe an, zog seine Pistole, lud diese durch und jagte, direkt neben diesem Mann stehend, einen Schuss in die Luft. Nichts passierte. Keine Regung von dieser Person auf der Mauer. Er war sturzbetrunken, wie sich anschließend herausstellte. Wir ließen ihn seinen Rausch weiter ausschlafen und sahen uns diesen Friedhof nun genauer an. Wir befanden uns zunächst auf dem alten Teil dieser Anlage. Richtung Osten, hinter einer kleinen Mauer lag der neue Teil, in dem angeblich auch gefallene Soldaten begraben sein sollen. Viele davon aus dem Gebiet südwestlich von Dzukste. Allerdings sollen diese Soldatengräber in der Sowjetzeit durch die heute zu sehenden zivilen Gräber überbettet worden sein. Eine Schande!

Friedhof Sati
Der alte Teil des Friedhofes in Sati.

Es begann plötzlich heftig zu regnen und wir flüchteten alle in die Autos. Nun wurde auch der besoffene Mann wach und torkelte orientierungslos umher. Wir fuhren um den Friedhof herum, zum ehemaligen Pfarrhaus. Aber dort waren nur zwei spielende Kinder anzutreffen. Von den Eltern dieser Kinder war weit und breit nichts zu sehen. Also fuhren wir wieder zurück, am Friedhof vorbei, zu dem Hof Ciem Kaleji. Dort trafen wir auf eine alte Frau, die allerdings nicht viel über die Sache zu berichten wusste. Sie schickte uns zum direkten Nachbarn und selbst dort gab es leider nur vage Angaben, wie z.B., dass Gefallene auf besagtem Friedhof "bei den Fichten" begraben sein sollen - was immer das auch heißen mag. Bei der Kirche sollen auf jeden Fall deutsche Soldaten ihre letzte Ruhe gefunden haben, auf dem Friedhof selbst nur lettische Legionäre. Die Frau, mit der wir uns hier unterhielten, stieg dann zu Herrn Rugens ins Auto, um uns zu einer Bekannten von ihr zu bringen, die vielleicht mehr wissen könnte. Dazu fuhren wir direkt in den Ort Sati. Aber auch hier kam leider nicht viel Neues zu Tage. Diese Frau machte uns allerdings auf ein Archiv in Tukums aufmerksam, in dem möglicherweise Näheres darüber zu finden sein könnte. Auch die Möglichkeit in den Kirchenbüchern etwas darüber zu erfahren schlug sie uns vor. Herr Rugens wollte sich in nächster Zeit um diese Dinge kümmern. Auch mit dem Verantwortlichen, der für den Friedhof zuständig ist, wollte er einmal reden, denn wir fanden zuvor eine markante Stelle, bei der die Möglichkeit besteht, dass dort eventuell unbekannte Gräber sein könnten. Die Erdoberfläche war in gleichmäßigen Abständen leicht wellig und es befanden sich dort auch keine Grabsteine oder Einfassungen. Auch dies wollte sich Herr Rugens einmal bei Gelegenheit genauer anschauen.

Nun machten wir uns noch schnell auf den Weg zur Kirche, die auf der anderen Seite der Hauptstraße liegt, denn es wurde so langsam aber sicher dunkel. Auf der linken Seite der Kirche, in Blickrichtung Westen, sollen vor ca. zwei Jahren deutsche Soldaten umgebettet worden sein. Es war von ca. 200 Mann die Rede. Auf der rechten Seite der Kirche seien - laut Aussage der Frau die uns begleitete - auch noch Gefallene begraben, die aber angeblich noch nicht umgebettet sein sollen. Diese Sache werde ich dann von zu Hause aus weiter verfolgen müssen. Ich machte schnell noch ein paar Aufnahmen, denn von Tageslicht konnte keine Rede mehr sein. Es war immerhin schon fast 21.00 Uhr. Herr Rugens brachte die Frau wieder auf ihren Hof zurück, derweil wir an der Hauptstraße auf ihn warteten. Auf direktem Weg fuhren wir dann über Irlava nach Dzukste, durch die dunklen Wälder Kurlands. Bei der Familie Bargais hielten wir an. Ernst und Modris waren somit schon zu Hause. Wir verabschiedeten uns noch von Herrn Rugens, der sich zusammen mit seinem Sohn gleich auf den Heimweg nach Slampe machte und wir fuhren direkt nach Seski. So ging ein langer und ereignisreicher Tag seinem Ende entgegen.



© Michael Molter

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